Olaf Scholz wählte den Begriff, von dem er sich den größten Abschreckungseffekt versprach. „Das ist blanker Imperialismus!“, schimpfte der deutsche Bundeskanzler im September vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Es war das erste Zusammentreffen des Gremiums nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, und im Plenum saßen mehrheitlich die Vertreterinnen und Vertreter früherer europäischer Kolonien.
Damit sie die Botschaft auch voll erfassten, fügte Scholz noch einen Satz hinzu. Im Vorgehen des Moskauer Machthabers Wladimir Putin liege „ein Desaster auch für unsere globale Friedensordnung, die die Antithese ist zu Imperialismus und Neokolonialismus“.
Seither hat sich die Sprachregelung weitgehend durchgesetzt, in Deutschland zumindest. Was Putin wolle, sei ein „Imperium“ nach dem Vorbild der Sowjetunion und des alten Zarenreichs. Dass sich hinter diesem Begriff auch jenseits dieser beiden historischen Vorbilder stets etwas Negatives, gar Verabscheuungswürdiges verberge, wird dabei stillschweigend vorausgesetzt: Imperien, na klar, entfesseln Kriege, sie unterdrücken Minderheiten und den Freiheitswillen der Menschen.
Echte und zu spät gekommene Imperien
Dieses gängige Klischee blieb zuletzt weithin unwidersprochen. Trotzdem ist es kaum mehr als eben dies, ein Klischee. Dabei gibt es in der Geschichte genügend Beispiele dafür, dass Imperien die Freiheit des Einzelnen und den Wohlstand aller, die kulturelle Vielfalt und friedliche Eintracht in aller Regel besser garantieren konnten als die auf ihren Trümmern entstandenen Nationalstaaten. Und wenn sich Putin in seinen Träumen von der wiedergewonnenen Größe Russlands ergeht, beweist das vor allem eines: dass er von diesem Wesenskern eines echten Imperiums überhaupt nichts verstanden hat.
Was Putin erstrebt, ist nicht weit entfernt von jenen negativen Zerrbildern, die ältere Imperialismustheorien ebenso wie jüngere Postkolonialismus-Diskurse zeichneten: Machtgewinn durch Eroberung, Ausweitung des Einflussbereichs um seiner selbst willen, Ausbeutung der Peripherie zugunsten des Zentrums, Ausrottung lokaler Kulturen. Das waren in langer historischer Perspektive freilich nicht die Merkmale echter Imperien, sondern allenfalls die Praktiken zu spät gekommener Pseudo-Imperialisten, etwa der Belgier im Kongo oder der Deutschen im heutigen Namibia.
Selbst unter den europäischen Kolonialreichen des 19. Jahrhunderts, gewiss nicht die glanzvollsten Exemplare des Imperiums im positiven Sinn, gab es vielfältige Abstufungen. Am ehesten kommt dem Bild des wohlwollenden Imperiums, des „benevolent empire“, wohl das britische Weltreich nahe.
Entstanden durch historischen Zufall
Der englische Historiker John Robert Seeley prägte 1883 das Bonmot, das Empire sei in „einem Augenblick der Geistesabwesenheit“ entstanden. Damit beschrieb er schon mal ein erstes Merkmal, das Putins Eroberungsträume von den langlebigen Imperien der Geschichte unterscheidet: Diese kamen fast immer durch historischen Zufall zustande, nicht durch eine langfristige Eroberungsstrategie.
Die Habsburger sammelten ihre Ländereien durch Heirat. Portugiesen und Spanier gewannen ihre Überseegebiete, als sie eigentlich den Seeweg nach Indien suchten. Und bei den Römern waren es vor allem – tatsächliche oder vermeintliche – Sicherheitsinteressen, die nach jenseits der Grenzen geführten Antiterroreinsätzen den Einflussbereich vergrößerten. Am Ende hatten sie sich auf diese Weise ein Weltreich zusammenverteidigt.
Von den Römern stammt auch der Begriff, den wir bis heute verwenden. „Imperium“ bezeichnete ursprünglich die Befehlsgewalt eines Beamten, später im übertragenen Sinn die Reichweite des römischen Machtanspruchs. Dabei verdankte das Imperium Romanum seine Stabilität gerade nicht dem harten Durchgriff irgendeiner Zentrale, sondern einer höchst dezentralen Organisation.
Rom respektierte die Selbstverwaltung
Rom, das in seinen Strukturen im Kern stets ein Stadtstaat blieb, respektierte die kommunale Selbstverwaltung, wie sie sich im Mittelmeerraum herausgebildet hatte. Die toleranten Religionen des antiken Mittelmeerraums mit ihren reich bevölkerten Götterhimmeln halfen dabei, weil sie untereinander anschlussfähig blieben. Solange man sich einreden konnte, dass die jeweils höchstrangige Gottheit ihre Entsprechung im römischen Jupiter hatte, war alles in bester Ordnung.
Vor allem aber war es die enge wirtschaftliche Verflechtung, die jahrhundertelang die Wohlstandszone zwischen Gibraltar und dem Toten Meer, zwischen den Wäldern Germaniens und der Wüste Libyens beisammenhielt – verbunden durch ein Meer, das bis zur Erfindung der Eisenbahn den Warenverkehr leichter ermöglichte als der Landweg auf den Straßen, selbst nachdem die Römer sie mustergültig ausgebaut hatten. Nicht nur Luxusgüter fanden so den Weg in die Hauptstadt und in ferne Provinzen, sondern vor allem die antiken Grundnahrungsmittel Getreide, Olivenöl und Wein.
Vom Wirtschaftsraum profitierten alle
Reiche Römer wie der Senator Lucius Licinius Lucullus dienen bis heute als Paradebeispiel, wenn es Oligarchen mit Hang zum Luxus zu beschreiben gilt. Vom Wirtschaftsraum des Imperium Romanum profitierte aber vor allem die breite Mehrheit der Bevölkerung, für deren Bedürfnisse besser gesorgt war als fast überall sonst vor dem Aufkommen des Massenwohlstands im 20. Jahrhundert.
Der blinde Fleck römischer Menschenfreundlichkeit blieb die Institution der Sklaverei, die im Gegensatz zu manchen anderen Gesellschaften von Sklavenhaltern zumindest Aufstiegsmöglichkeiten für Freigelassene nicht ausschloss. Die im Kern rassistische Vorstellung, bestimmte Menschen seien zur Unfreiheit geboren, blieb den Römern fremd.
Gerade in Deutschland galt lange Zeit das republikanische Rom der Aufstiegsphase als das Maß aller Dinge, die spätere Kaiserzeit hingegen wurde weithin verachtet. Selbst der große Liberale Theodor Mommsen wütete in seiner 1854 bis 1856 erschienenen „Römischen Geschichte“ gegen die Wohlstandsverliebtheit des entwickelten Imperiums.
„Überall, wo das Kapitalistenregiment im Sklavenstaat sich vollständig entwickelt, hat es Gottes Welt in gleicher Weise verwüstet“, schimpfte er in Anspielung auf die eigene Zeit. „Erst wenn Amerikas Drachensaat reift, wird die Welt wieder ähnliche Früchte zu ernten haben.“ Eine Fortsetzung seines Geschichtswerks in die Kaiserzeit schrieb er nie.
Glücklichste Periode der Weltgeschichte
Ganz anders sahen es angelsächsische Historiker, allen voran im 18. Jahrhundert der Brite Edward Gibbon. Er zögerte nicht, das zweite Jahrhundert nach Christus als „die Periode in der Weltgeschichte“ anzugeben, „während welcher die Lage des Menschengeschlechtes die beste und glücklichste war“.
Selbst im vierten Jahrhundert, das gemeinhin schon der Phase des Niedergangs zugerechnet wird, ließ es sich Gibbon zufolge weit besser leben als in vielen späteren Gesellschaften. „Die Künste des Luxus und der Üppigkeit wurden betrieben, und die Einwohner eines beträchtlichen Teiles des Erdballs genossen die höheren Freuden der Gesellschaft.“
Zerstört wurde all dies aus der Sicht des Briten durch das Aufkommen einer Religionsgemeinschaft, die den antiken Toleranzgedanken nicht teilte: des Christentums. „Ich habe den Triumph der Barbarei und der Religion beschrieben“, fasste Gibbon sein umfangreiches Werk über „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ zusammen – ein Grund, warum das Werk im katholischen Irland lange Zeit verboten war.
Gefahren des Fundamentalismus
Dem Kaiser Julian, der sich im 4. Jahrhundert ein letztes Mal gegen den Vormarsch eines religiösen Fundamentalismus stemmte, ließ erst vor Kurzem der britische Schriftsteller Julian Barnes in seinem Roman „Elizabeth Finch“ endlich Gerechtigkeit widerfahren.
Begonnen hatte die vergleichsweise friedliche römische Glanzzeit mit einem Herrscher, der Putin kaum gefallen dürfte: Kaiser Hadrian, der von 117 bis 138 nach Christus regierte, beendete die militärischen Abenteuer seines Vorgängers Trajan, allen voran einen missglückten Feldzug auf dem Gebiet des heutigen Irak, und kümmerte sich um die innere Konsolidierung seines Reichs.
Während Putin nach den Worten des Moskauer Patriarchen einen Feldzug gegen „Gay-Paraden“ führt, ließ Hadrian seinen früh verstorbenen Lebensgefährten Antinous wie einen Gott verehren. Und er war, obwohl im heutigen Spanien geboren, von der griechischen Sprache und Kultur geprägt – was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kam, dass er als erster Kaiser den Bart der Philosophen trug.
Alter Osten und neuer Westen
Damit verkörperte Hadrian zugleich die Einheit zwischen der alten Welt des griechischen Ostens mit seiner Kultur der Kleinstaaterei und der neuen Welt des römischen Westens, der einst von griechischen Kolonisten zivilisiert worden war und sich dann selbst zur Großmacht aufschwang.
Auch darin liegt eine augenfällige Parallele zum transatlantischen Wirtschaftsraum der Gegenwart mit seinem Dualismus zwischen Europa und Nordamerika: Brüssel und Washington können wie die moderne Verkörperung von Konstantinopel und Rom wirken. Mit seinem Pseudo-Imperialismus hat es Wladimir Putin geschafft, dieser westlichen Wohlstandszone neues Leben als liberales Imperium einzuhauchen.
Eine einheitliche Zentralregierung brauchte es dafür schon in der Antike nicht unbedingt. Selbst nach der Trennung von Ost- und Westrom blieb die enge Verflechtung des Mittelmeerraums bestehen, sogar über die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers hinaus.
Von wegen Ausbeutung: Die Peripherie profitierte
Zu den Kennzeichen von Imperien zählt übrigens, dass sie in der Regel mit einem überaus schlanken Apparat auskommen. So arbeiten für die Europäische Union rund 60 000 Menschen, nur doppelt so viele wie für die Stadt München. Und im „Indian Civil Service“ der Engländer waren lediglich tausend Mitarbeiter damit beschäftigt, ein Land von damals schon mehreren Hundert Millionen Menschen zu verwalten.
Nutzen und Kosten sind dabei häufig ganz anders verteilt, als es dem landläufigen Bild imperialer Ausbeutung entspricht. Gerade in erfolgreichen und langlebigen Imperien flossen die Geldströme oft vom Zentrum in die Peripherie, nicht umgekehrt. Kaum ein Landstrich erlebte unter römischer Herrschaft einen solchen Aufschwung wie Germanien, wo letztlich auch der in Italien erworbene Wohlstand „verbraten“ wurde, wie es der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder mal über die deutschen EU-Beiträge sagte.
In einem Punkt hat Wladimir Putin mit seiner Interpretation der Geschichte allerdings recht: Der Verfall von Imperien kann fürchterlich sein. Der russische Präsident bezieht das vor allem auf den Untergang der Sowjetunion. Es gilt für die älteren Imperien aber noch mehr. Auch wenn es die Spezialisten fürs Mittelalter nicht gerne hören: Der Untergang Roms brachte einen Verlust an Wohlstand und Zivilisation, der zwar nicht von einem Tag auf den anderen eintrat, aber dafür erst nach ungefähr einem Jahrtausend wieder aufgeholt war.
Selbst das Zarenreich bot positivere Ansätze
Auch der Untergang der drei großen Imperien des östlichen und südöstlichen Europa hatte katastrophale Folgen. Gemeint sind das Habsburgerreich, das Osmanische Reich und das Reich der russischen Zaren. Von deren Untergang im Ersten Weltkrieg hat sich die Region im Grunde bis heute nicht erholt.
Im alten Österreich-Ungarn war es vor allem die österreichische Reichshälfte, die den lokalen Kulturen Raum zur Entfaltung bot. Die ungarische Regierung hingegen setzte auf eine konsequente Magyarisierungspolitik in jenem Groß-Ungarn, das der heutige Ministerpräsident Viktor Orbán nun so gerne zurückhätte, mit demselben imperialen Verständnis wie Putin, als dessen Verbündeter Orbán heute in der EU auftritt.
Selbst das oft gescholtene Zarenreich bot Ansätze jener liberaleren Form von Imperium, von der Putin nichts wissen will. Das gilt vor allem für die Reformperiode zwischen der Niederlage im Krimkrieg 1856 und der Ermordung Alexanders II. im Jahr 1881. Wer heute die sechsstöckigen Gründerzeitbauten aus der Zarenzeit etwa in Riga oder in den erhaltenen Warschauer Stadtvierteln bestaunt, wer durch die riesigen Fabrikviertel in Łódź streift, der wird an die Erzählung vom Niedergang und der Ausbeutung der Peripherie kaum noch glauben.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass auch Putins Freunde im Westen ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff Imperium haben. So konnte man Anfang 2007 auf einer Podiumsdiskussion über Imperien im Weimarer Nationaltheater einen ganz aufgekratzten Egon Bahr erleben. Der Veteran sozialdemokratischer Ostpolitik freute sich damals, dass Putin gerade auf der Münchener Sicherheitskonferenz eine Brandrede gegen den Westen gehalten hatte.
Mit einem liberalen Begriff vom Imperium konnte Bahr dagegen ersichtlich nichts anfangen. Für ihn ging es bloß um „Imperialismus“, vor allem amerikanischer Provenienz, und der war eindeutig schlecht. Zumindest darin folgt ihm der heutige Bundeskanzler noch, aller Zeitenwende zum Trotz.
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